Probleme
Der Staat vergisst auf seine Kinder
2017 wurde nach langen Verhandlungen das Gesetz zur Errichtung von Primärversorgungseinheiten (PVEs) beschlossen. Eine Arbeitsgruppe der Politischen Kindermedizin (PKM) machte damals die Verhandler darauf aufmerksam, dass man dabei auf die Kinder nicht vergessen dürfe. Ebenso arbeitete die Gruppe ein Modell aus, wie so ein Primärversorgungszentrum für Kinder und Jugendliche aussehen könnte und legte es auf höchster Ebene vor. Man bekam die Zusicherung, man werde es bei den weiteren Verhandlungen beachten. Als das Gesetz herauskam war von PVEs für Kinder keine Spur. Man hatte sie wohl vergessen oder anderer Interessen wegen geopfert.
Sechs Jahre später wurde 2023 aufgrund des zunehmenden Drucks, wegen der Nichtbesetzbarkeit von Kassenstellen für Kinder- und Jugendheilkunde das Primärversorgungsgesetz genau um diesen Punkt ergänzt und es sind jetzt endlich kinderärztliche Primärversorgungseinheiten möglich und nehmen auch an Zahl zu. Sechs verschenkte Jahre, die kaum mehr aufzuholen sind.
Wie groß bzw. klein das Erinnerungsvermögen des Staates und seiner Lenkenden ist, zeigt sich auch daran, dass im Gesundheitsreformpaket Förderungen zum Ausbau von Kassenstellen für Allgemeinmediziner*innen, Kinderärzt*innnen und Gynäkolog*innen versprochen wurden, nicht aber für Kinder- und Jugendpsychiater*innen. Dies obwohl deren Mangel vorher monatelang in der Öffentlichkeit diskutiert wurde.
Wichtige Entscheidungen werden ohne Beachtung der Bedarfe von Kindern und Jugendlichen getroffen
Zum Beispiel musste man in der Aufarbeitung der Corona-Pandemie und deren Folgen auf die Psyche von Menschen feststellen, dass Kinder und Jugendliche am meisten betroffen waren. Es zeigte sich gerade bei dieser Altersgruppe, dass es zu einem massiven Anstieg von psychischen Problemen gekommen war. Diese sei nicht zuletzt auf die Schließungen der Schulen und Kindergärten während der Lockdowns zurückzuführen. Waren beim ersten Lockdown, auf Grund des mangelnden Wissens und der fürchterlichen Todeswellen noch alle über die Notwendigkeit der Maßnahme einer Meinung, so warnten beim zweiten, noch vielmehr beim dritten Lockdown, Expert*innen aus dem Bereich der Kindergesundheitsversorgung zunehmend vor den negativen Folgen für die Kinder und Jugendlichen. Sie rieten vehement von Schulschließungen ab. Der einzige Vertreter für die Anliegen der Kinder im Expertenbeirat des Gesundheitsministeriums berichtet, dass er sich innerhalb des Gremiums schon Gehör verschaffen konnte. Seine Statements waren auch jeweils mit den Fachgesellschaften für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Kinder- und Jugendheilkunde abgestimmt. In den Maßnahmen der Regierung fanden sich davon jedoch keine Spuren.
In Folge der Aufarbeitung hörte man Stimmen aus dem Kreis der Verantwortlichen, „beim nächsten Mal“ (?) werde man „mehr auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen Rücksicht nehmen“. Und – man schuf die Aktion „Gesund aus der Krise“. Das heißt man schuf die Möglichkeit zur Behandlung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher. Im Sommer 2023 wurden 10.000 Plätze, begrenzt auf 15 Einheiten pro Kind oder Jugendlicher*m ermöglicht. So griff man, wohl um das schlechte Gewissen zu beruhigen, zu einer Pflastermethode. Zu einer ehrlichen Reform, die die Bedarfe langfristig abdeckt, war man nicht imstande oder nicht bereit, obwohl man zwischenzeitlich die Erfahrung gemacht hatte, dass die Betroffenheit der behandlungsbedürftigen Kinder und Jugendlichen oft schwerwiegender war (post oder proper Corona) und die 15 Stunden für ihre Therapie oft nicht ausreichten. Erstaunlicherweise konnte man für dieses Projekt den beteiligen Therapeut*innen ein Honorar von 105 € pro Einheit (Einzeltherapie) und 120 € (Gruppentherapie) -also etwa kostendeckend für eine*n freiberufliche*n Therapeut*in - flüssigmachen, während bei Festlegung eines österreichweit einheitlichen Tarifniveaus nur 76 € (inkl. einer vertraglich garantierten, automatischen Tarifvalorisierung zur Wertsicherung des Tarifes) festgelegt wurden.
Politik und Verwaltung nehmen Kinder und Jugendliche nicht als eigene Personen wahr
Sieht man sich die Kompetenzverteilung in Politik und Verwaltung in Bezug auf Kinder und Jugendliche an, dann sind allein im Rahmen der Bundesverwaltung sieben Ministerien und etwa 20 Abteilungen zuständig sowie sieben Minister*innen und eine Staatssekretärin. Nur zwei Abteilungen (Bundeskanzleramt Abteilung VI Familie und Jugend mit Abt VI/2 Kinder- und Jugendhilfe und Abt VI/5 Jugendpolitik) nehmen Kinder bzw. Jugendliche als eigenständige Person wahr. In allen anderen sind sie nur Anhängsel mit einem anderwärtigen Fokus, z.B. Familie. Auch die Kinder- und Jugendhilfe, mit alleinigem Fokus auf Kinder und Jugendliche hat nur sehr umschriebene Kompetenzen und keineswegs eine koordinierende Aufgabe innerhalb der Gesamtabteilung VI geschweige denn mit anderen Ministerien. So entscheidet jede Abteilung aus ihrer Perspektive und ihrem Blick aufs eigene Budget. Es gibt sie nicht, die eine Stimme für die Anliegen von Kindern und Jugendlichen! Kein Wunder, dass sie immer wieder vergessen werden!
Das Prinzip der aufgeteilten Verantwortung zieht sich in den Strukturen der Länder weiter durch
In der derzeitigen Legislaturperiode teilen sich z.B. in Niederösterreich 6 Politiker und 11 Landesabteilungen die Kompetenzen für Kinder und Jugendliche. Jede Neuerung, die sich als Notwendigkeit in der Betreuung der Jugendlichen ergibt, kann in der Regel von keiner einzelnen Abteilung selbständig durchgeführt werden. Jede einzelne kann sie aber verhindern. Einrichtungen zur Betreuung von Kindern und Jugendlichen haben aber einen ständigen Erneuerungsbedarf, weil sich jede gesellschaftliche Entwicklung stark auf Kinder und Jugendliche auswirkt.
Länder schieben Verantwortung auf Kindergärten und Schulen ab
INKLUSION von Kindern mit Behinderung als MENSCHENRECHT und AUFTRAG[1] [2] wird in Österreich nach wie vor nicht umgesetzt - Länder schieben Verantwortung für Kinder mit Behinderung auf die Leitungen von Kindergärten und Schulen ab.
Hintergrund:
Die UNICEF weist immer wieder darauf hin, wie notwendig die Inklusion von Kindern mit einer Behinderung ist und dass die Exklusion soziale, psychologische und ökonomische Kosten verursacht[3]. So ist man im Österreichischen Schulsystem immer noch weit davon entfernt, Bildung in Form von Inklusion als die Norm anzuerkennen. In den letzten 10 Jahren gab es kaum Veränderungen bei den Zahlen der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die Sonderschulen besuchen (müssen). Der Anteil diese Kinder liegt unverändert bei durchschnittlich 36,8 %[4] aller Kinder mit Sonderpädagogischen Förderbedarf. Darüber hinaus verursacht die fehlende Inklusion einen nicht unbeträchtlichen volkswirtschaftlichen Schaden. Eine Studie der ILO (International Labour Organization)[5] zeigte, dass die Minderung des BNPs (Bruttonationalprodukt) in den untersuchten Ländern zwischen 1 und 7% liegt, wie auch in der angeführten UNICEF-Broschüre dargestellt wird.
Die Evaluierung des Nationalen Aktionsplans Behinderung 2012-2020[6] zeigte Defizite in der Politik und im Umgang mit Kindern mit Behinderung auf. So wird das Thema Kinder mit Behinderungen nicht ausreichend abgebildet. Wichtige Bestimmungen der UN-BRK (Behindertenrechtekonvention) zur Berücksichtigung des Kindeswohls und der Meinung von Kindern mit Behinderungen (vgl. UN-BRK Art. 7 Abs. 2-3) werden nicht wiedergegeben. Der Bericht verweist vor allem auf die unzureichende Inklusion im Schul- wie Vorschulbereich.
Beispiel aus dem Vorschulbereich: in allen Bundesländern kann Kindern mit Behinderungen das verpflichtende Kindergartenjahr, d.h., der Besuch einer Elementaren Bildungseinrichtung auch „nicht zugemutet“ werden. Hier das Beispiel Wien:
Jene Kinder, die mit 1. September des jeweiligen Kalenderjahres das 5. Lebensjahr vollendet und ihren Hauptwohnsitz in Wien[7] haben, sind zum Besuch einer elementaren Bildungseinrichtung verpflichtet. Die Erziehungsberechtigten sind dazu verpflichtet, dafür zu sorgen, dass ihr Kind/ihre Kinder die Besuchspflicht erfüllt/erfüllen…..
Ausgenommen von der Besuchspflicht sind Kinder,…..denen auf Grund einer Behinderung aus medizinischen Gründen oder Kinder, denen auf Grund eines besonderen pädagogischen Förderbedarfs der Besuch nicht zugemutet werden kann…
Gleichlautende oder ähnliche Bestimmungen gibt es in allen Bundesländern!
Damit schieben die Länder ihre Verpflichtung dafür zu sorgen , dass jedes Kind, egal welcher Voraussetzung, ein Recht, ja sogar die Pflicht für zumindest ein letztes Kindergartenjahr hat bzw. die Schulpflicht zu erfüllen ist, an die einzelne Bildungsinstitution ab. Wenn diese, ob der ungenügenden Rahmenbedingungen einem Kind die Aufnahme verweigern, so ist das deren Verantwortung. Sie haben bei den Eltern den „schwarzen Peter“. Das ist Delegation der Verantwortung an den letzten in der Hierarchie, der sich nicht mehr wehren kann.
Eine Schlussfolgerung aus der Evaluation:
Der NAP Behinderung 2012–2020 hat nicht entscheidend zu einer Verbesserung der Bildungssituation von Menschen mit Behinderungen beigetragen.
Ebenso weist der Evaluationsbericht auf Schwächen in der Rehabilitation, der Hilfsmittel- und psychiatrischen Versorgung von Kindern hin.
Der NAP 2022-2030[8] entstand nach der Evaluation des vorhergegangenen NAP 2012-2020. Er enthält wieder zahlreiche gut gemeinte Ziele und Indikatoren. Letztere sind allerdings teilweise sehr allgemein gehalten und werden daher den Grad der Zielerreichung kaum abbilden können. Eine solche Kritik findet sich auch in der Stellungnahme des unabhängigen Monitoring-Ausschusses zum NAP 2022-2030[9]. Der erste Umsetzungsbericht[10] weist ebenfalls in diese Richtung. Die formulierten Ziele sollten zeitnah umgesetztwerden. In welchem Ausmaß das gelingt, wird schlussendlich die Evaluation 2030 zeigen!
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[1]BMSGPK, UN-Behindertenrechtskonvention, Deutsche Übersetzung der Konvention und des Fakultativprotokolls, 2016
[2]https://www.kija.at/images/entwurf_bundesverfassungsgesetz_kinderrechtskonvention.pdf
[3]Combatting the Costs of Exclusion for Children with Disabilities and their Families, United Nations Children’s Fund (UNICEF), New York, 2021.
[4]Zuletzt 2022/23: 37,8 %. Quelle: Statistik Austria („Bildung in Zahlen, Tabellenband“ für das jeweilige Schuljahr, seit 2013/14)
[5]Buckup, Sebastian, ‘The Price of Exclusion: The economic consequences of excluding people with disabilities from the world of work’, Employment Working Paper No. 43, International Labour Organization, Geneva, 2009.
[6]BMSGPK, Evaluierung des Nationalen Aktionsplans Behinderung 2012–2020, Wien, 2020
[7]https://www.wien.gv.at/amtshelfer/gesellschaft-soziales/magelf/bewilligungsverfahren/kindergartenjahr.html abgerufen am 6.6.2024
[8]BMSGPK: Nationaler Aktionsplan Behinderung 2022- 2030, Österreichische Strategie zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, beschlossen durch die österreichische Bundesregierung am 6. Juli 2022
[9]Unabhängiger Monitoring-Ausschuss zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen: Stellungnahme zum Nationalen Aktionsplan „Behinderung“ 2022-2030, Mai 2022
[10]BMSGPK: NAP Behinderung 2022-2030, Umsetzungsbericht 2022-2023, Februar 2024