Wie Kinder behindert werden
- Noch immer erleben viele Kinder und Jugendliche mit Behinderungen Diskriminierung und alle Formen von Gewalt, haben oftmals kein Anrecht auf persönliche Assistenz, sind mit vielen Barrieren konfrontiert, auch im Gesundheitssystem, und haben wegen mangelnder Inklusion weniger Chancen im Bildungssystem (Zitat Österreichischer Behindertenrat)
Aufgrund unterschiedlicher Definitionen zum Begriff Behinderung liegen keine offiziellen Daten zu Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen vor. Man versteht unter Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen jedenfalls solche mit angeborenen Fehlbildungen und Syndromen, neurologisch-muskulären Erkrankungen, aber auch mit tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. Was diese Kinder und deren Familien eint, ist der Bedarf an multiprofessioneller Behandlung und Betreuung. Sie brauchen, je nach Alter und Verlauf, Leistungen verschiedener Gesundheitsberufe. Von Medizin über Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie bis zu psychologischer Diagnostik, Behandlung, Begleitung der Familie sowie Unterstützung durch die Sozialarbeit z.B. um sich im „Dschungel“ der verschiedenen Unterstützungsangebote zurechtzufinden. Nicht nur die Zahl der zu versorgenden Kinder steigt, sondern auch die Komplexität der Störungsbilder.
Das behindert diese Kinder besonders:
- Überlange Wartezeiten und der Mangel an kassenfinanzierten Therapieplätzen (siehe auch „Kinder ohne Therapie“). Bei Kindern mit komplexen Störungen und Behinderungen ist eine Versorgung weder im Bereich der Krankenanstalten noch im niedergelassenen Bereich ausreichend möglich. Es braucht spezialisierte Einrichtungen wie Ambulatorien mit einer hohen Expertise im Bereich der angeborenen Erkrankungen und deren Behandlung.
- Kinderfachärzt*innen mit Expertise für Kinder mit Behinderungen sind „Mangelware“: Es gibt zunehmend weniger Fachärzt*innen für Kinder- und Jugendheilkunde mit Kassen und darunter viel zu wenige mit dem Zusatzfach Neuropädiatrie, zusätzlich droht eine Pensionierungswelle der wenigen vorhandenen Neuropädiater*innen.
- Wer operiert diese Kinder? Auch im Bereich der Kinderneuroorthopädie gibt es zu wenig erfahrene Kolleg*innen mit entsprechend langer OP-Erfahrung, um den Krankheitsbildern dieser Kinder und Jugendlichen begegnen zu können (siehe auch „Wo es sonst noch brennt – Orthopädie ohne Kinder“). Momentan liegen die Wartezeiten für dringend erforderliche Operationen wie Hüftoperationen bei bis zu einem Jahr. Besonders schlimm ist das bei kindlichen Schmerzpatient*innen, die darauf hoffen müssen, dass es Ausfälle anderer Patient*innen gibt, um operiert werden zu können.
- Barriere Hilfsmittelversorgung: entgegen vielfacher Versprechungen zum One-Stop-Shop für die Besorgung von Hilfsmitteln (z.B. div. Gehhilfen, Sitzhilfen, orthopädische Schuhe, Schienen, etc.) hat sich wenig bis nichts verändert. Es braucht noch immer jemanden, der eine Verordnung ausstellt, eine Einreichung zur Bewilligung beim Sozialversicherungsträger und es bleiben nach wie vor in verschiedenen Bereichen hohe Restkosten für die Familien. Im Gegensatz zu den Erwachsenen stellt sich bei Kindern und Jugendlichen das Wachstum als zusätzliche Hürde dar, weil eine ständige Neuverordnung, Neuadaption, aber auch der Kreislauf des Einreichens und des Organisierens der Restkosten durch diverse Fonds z.B. der ÖGK, Bezirksverwaltungsbehörden und Charity-Vereinen notwendig ist und für die Eltern eine nahezu lebenslängliche Zusatzbeschäftigung darstellt.
- Rehabilitation – mangelnde Gleichstellung von Kindern mit Behinderungen: Die bestehenden Rehaeinrichtungen haben in Österreich bei schwer- und schwerstbehinderten Kindern große Probleme aufgrund des hohen Pflegeaufwandes. Diese Problematik ist nur ungenügend gelöst, es gibt Aufnahme- bzw. Ausschlusskriterien bei vielen Einrichtungen.
- Kinderjugendpsychiatrische Versorgung – grundsätzlicher Mangel an Plätzen: Besonders schwierig ist es, wenn Komorbiditäten wie psychiatrische Erkrankungen bei diesen Patient*innen auftreten. Es gibt zu wenig stationäre Aufnahmekapazitäten bzw. auch qualitativ für diese Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen kaum geeignete Einrichtungen.
- Von Inklusion weit entfernt – Bildung für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen: Die Defizite im Bildungsbereich potenzieren die Problematik im Bereich der Gesundheit und umgekehrt.
- Barrieren für Flüchtlinge, nicht geklärter Aufenthaltsstatus, Migration: Ohne Lotsenfunktion und sehr guten Sprachkenntnissen ist es kaum möglich, sich in unserem System zurechtzufinden. Darüber hinaus können bei einem unklaren Aufenthaltstitel nicht alle Leistungen der Behindertenhilfe bezogen werden.
- Transition: Viele Patient*innen erreichen nicht die Reife und Autonomie, die ein „Andocken“ im Regelversorgungssystem der Erwachsenenmedizin erfordert. Zentren für Erwachsene ähnlich der sozialpädiatrischen Zentren sind bis auf wenige Ausnahmen nicht etabliert. Ein Großteil der Patient*innen ist nach Erreichen des 18. Lebensjahres unversorgt.
Quellen:
- NAP Kinder und Jugendliche mit Behinderungen – Österreichischer Behindertenrat
- Sonderbericht Bildung des Unabhängigen Monitoringausschusses
- Auszüge aus einer Zusammenfassung der Leiterin des Sozialpädiatrischen Zentrums Sonnenschein in St.Pölten
Empfohlene Maßnahmen:
- Dringend notwendiger Ausbau der Sozialpädiatrischen Ambulatorien und anderer geeigneter Therapiemöglichkeiten
- Sicherung des derzeit noch vorhandenen Wissens und der Kompetenzen
- Entsprechende Curricula in der Ausbildung der Gesundheitsberufe betreffend Wissen um angeborene Erkrankungen und Umgang mit Behinderung
- Inklusive Bildung
- Familienentlastende Maßnahmen
- Vereinfachung und Beschleunigung der Hilfsmittelversorgung
- Kinder mit chronischen Erkrankungen sind auf den Goodwill von Pädagog*innen im Kindergarten und in der Schule angewiesen, die ihnen helfen wollen, sonst können sie nicht teilhaben
- UN-Empfehlungen zu inklusiver Bildung werden nicht umgesetzt, was eine kontinuierliche Verletzung der Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen im Bereich Bildung bedeutet
Der fehlende Rechtsanspruch von Kindern mit Unterstützungsbedarf auf einen Kindergartenplatz, selbst im verpflichtenden Kindergartenjahr, und der Mangel an Unterstützungsleistungen wie Stützkräften oder individuelle Assistenz, hindert die Kinder an der elementarpädagogischen Bildung, an entwicklungsrelevanter Teilhabe und dem Kontakt mit anderen Kindern. Dies führt zu weiteren behandlungsbedürftigen persönlichen und sozialen Defiziten.
Selbst wenn die Kinder mit einer chronischen Erkrankung oder Behinderung einen Platz im Kindergarten oder in der Schule erhalten, gibt es meist keine Plätze für eine Nachmittagsbetreuung bzw. einen Hortplatz, was alleinerziehende Mütter, aber auch Familien, die aus verschiedenen Gründen schwerlich ein förderliches Umfeld für ihre Kinder darstellen, ganz besonders trifft.
In Österreich ist ein „Unabhängiger Monitoringausschuss zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung“ eingerichtet. In seinem letzten Bericht vom Juli 2023 heißt es wörtlich:
„Im Bericht wird anhand verschiedener Beispiele gezeigt, dass Österreich den aus Artikel 24 erwachsenden Verpflichtungen nicht genügend nachkommt. Auch den im Rahmen der letzten Staatenprüfung erfolgten Handlungsempfehlungen wurde in den letzten Jahren in nicht genügender Weise entsprochen. Insgesamt zeigt sich eine kontinuierliche Verletzung der Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen im Bereich Bildung. Dies wird unter anderem an den nachfolgenden Punkten deutlich:
- Ressourcenprobleme inklusiver Bildung und Stabilisierung des Sonderschulsystems
- Zwischen Rückschritten und Stillstand in der Umsetzung inklusiver Bildung
- Passivität und Gleichgültigkeit gegenüber Menschenrechten
- Pseudo-Partizipation von Menschen mit Behinderungen
- Massive Mängel in allen Bildungsbereichen
In Summe muss festgehalten werden, dass Österreich von den notwendigen strukturellen Änderungen in Zielperspektive eines inklusiven Bildungssystems sehr weit entfernt ist bzw. sich in den letzten Jahren sogar weiter entfernt hat.“
Quellen:
- Zur Situation von Kindern mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen in der Schule – KIKICO
- Sonderbericht Bildung des Unabhängigen Monitoringausschusses
Empfohlene Maßnahmen:
Inklusion von Kindern mit einer chronischen Krankheit oder Behinderung benötigt:
- Ausreichende personelle und finanzielle Ressourcen
- Zum Thema gut ausgebildete Pädagog*innen
- Qualifizierte Stützkräfte und persönliche Assistenz
- Beschränkte Klassenschüler*innenzahlen
- Institutionalisierte Kommunikationskanäle für alle betroffenen und betreuenden Personen
- Sehr hilfreich wären School Nurses (siehe Punkt „Wo es sonst noch brennt – Wo ist eine Pflegerin“)
Der UN-Fachausschuss zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen gab bereits 2013 die nachfolgenden Handlungsempfehlungen für Österreich:
- Verstärkte Bemühungen zum Aufbau eines inklusiven Bildungssystems – von der Elementarbildung bis zur Sekundarstufe
- Sicherstellung der Partizipation von Kindern mit Behinderungen und der sie Vertretenden in den Implementierungsbestrebungen zu inklusiver Bildung
- Größere Anstrengung zur Erhöhung der Anzahl von Studierenden mit Behinderungen
- Erhöhung der Anzahl an Lehrer*innen mit Behinderungen und Aufbau einer barrierefreien Lehrer*innenbildung
- Allein in Wien können mehr als 1000 Kinder wegen einer Behinderung oder chronischen Erkrankung nicht in einen Kindergarten aufgenommen werden
- Kinder mit Integrationsbedarf haben in Österreich auch in großen Gemeinden häufig keinen gesicherten Kindergartenplatz mit Stützmaßnahmen und unzureichende heilpädagogische Begleitung
Wenn mehr als 1000 Kinder wegen einer Behinderung oder chronischen Erkrankung nicht in einen Kindergarten aufgenommen werden, dann bedeutet das auch, dass über 1000 (meist) Mütter keiner Arbeit nachgehen können. Hauptgrund dafür ist zum einen der chronische Personalmangel in der Elementarpädagogik, der schon lange bekannt ist, andererseits aber auch eine entsprechende Haltung Kindern mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen gegenüber. Häufig werden nämlich die betroffenen Kinder nicht in den Kindergarten aufgenommen, weil sich niemand findet, der notwendige medizinische oder pflegerische Handgriffe übernehmen möchte. Schulungen werden oft verweigert. Dass die Haftungsfrage seit langem geklärt ist, wird Pädagog*innen oft nicht vermittelt. Strafbar macht sich nur, wer vorsätzlich einem Kind Schaden zufügt – aber auch, wer keine Erste Hilfe im Notfall leistet. Zudem gibt es in Kindergarten-Verträgen die Klausel, dass ein betroffenes Kind seinen Platz verlieren kann, wenn mitten unter der Kindergartenzeit eine Diagnose gestellt wird.
Die MA-10 richtet nun eine Kompetenzstelle für Inklusion ein und hat an einer entsprechenden Gesetzesnovelle gearbeitet. Ab Herbst 2024 sollte es Fördergeld und Personal geben, sobald in einer Gruppe 2 oder mehr betroffene Kinder aufgenommen werden sollen. Es wird sich zeigen, ob diese ersten guten Schritte in Richtung echter Inklusion funktionieren werden.
Außerhalb Wiens sind die Gemeinden zuständig – und da haben Bürgermeister*innen oft das letzte Wort. Es braucht den guten Willen aller und eine ausreichende Finanzierung sowie gutes und couragiertes Personal (das muss nicht zwingend aus der Pflege kommen), um jedes Kind seinen Bedürfnissen entsprechend willkommen zu heißen. Nicht nur in der Schule, sondern auch im Kindergarten wäre zum Beispiel ein*e School Health Nurse, bzw. in Gemeinden ein*e Community Nurse eine gute Möglichkeit, um Inklusion verwirklichen zu können.
Quellen:
- Zahlenangabe zu nicht aufgenommenen Kindern: ca. 900 laut Auskunft Büro Stadtrat Christoph Wiederkehr vom Februar 2024, Update durch Lobby4kids Mai 2024
- Weitere Infos durch Selbsthilfegruppe Lobby4Kids
Empfohlene Maßnahmen:
- Erhöhung der Ressourcen für die Kindergärten, Bereitstellung von finanziellen Mitteln, aber auch Charmeoffensive und Rekrutierung von Personal
- Bessere Arbeitsbedingungen für Pädagog*innen
- Assessment für das betroffene Kind vor Aufnahme in den Kindergarten: Runder Tisch mit Eltern/pflegenden Angehörigen (ev. mit dem Kind), Pädagog*innen, einer zur Schulung befugten Person (z. B. mobile Kinderkrankenpfleger*in oder School Nurse), fachärztliche Gutachten und Expertisen mit eingeschlossen
- Implementierung von School Nurses auch in Kindergärten
- Verpflichtende Erste Hilfe Kurse für Pädagog*innen, regelmäßige Updates, To-do-Listen für das jeweilige Management
- Aufklärung über Haftung