Kinder ohne Therapie
- Von 3-4 Kindern, die für ihre Entwicklung eine Ergotherapie oder logopädische Therapie brauchen, wird diese nur einem Kind ganz oder teilweise von den Krankenkassen finanziert
- Es ist zu befürchten, dass mehr als die Hälfte der therapiebedürftigen Kinder wegen der hohen selbst zu tragenden Kosten gar keine Therapie bekommt oder die Therapien zu früh abgebrochen werden
Ca. 15-20 Prozent der Kinder und Jugendlichen brauchen in ihrer Entwicklung eine meist nur vorübergehende Therapie, Tendenz steigend. Bleibt diese aus, werden oft Chancen auf ein normales und selbstbestimmtes Leben vergeben.
Die wichtigsten entwicklungsrelevanten funktionellen Therapieformen sind Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie. Sie betreffen die Bereiche Sprachentwicklung, Handlungsfähigkeit im persönlichen Umfeld und Bewegungsfähigkeit.
Diese „funktionellen Therapien“ sind laut ASVG (Allgemeines Sozialversicherungsgesetz) der ärztlichen Behandlung gleichgestellt und daher Leistungen, die die Sozialversicherungen den Versicherten ausreichend zur Verfügung stellen müssten.
Während dies in Deutschland schon lange flächendeckend der Fall ist und diese Therapien für Kinder und Jugendliche kostenfrei sind, erhalten in Österreich nur wenige eine von den Krankenkassen voll finanzierte Therapie bei einer der viel zu wenigen Kassentherapeut*innen oder in Entwicklungsambulatorien. Da die Therapien aber meist zeitlich dringend notwendig und die Wartelisten sehr lang sind, bleibt vielen nur der Weg zu einem*einer Wahltherapeut*in. Dort müssen die Kosten selbst bezahlt werden, die Kasse retourniert davon nur einen Teil. Diese Vorfinanzierung und die verbleibenden Selbstkosten übersteigen oft die Möglichkeiten finanziell schwacher Familien.
Selbst wenn man die Kinder und Jugendlichen zusammenzählt, die in Österreich eine von den Kassen ganz oder teilweise finanzierte Therapie erhalten, sind das bei der Logopädie nur 1/3 und der Ergotherapie 1/4 so viele Kinder wie in Deutschland.
Auch wenn man annimmt, dass ein Teil der Kinder Therapien erhält, die ausschließlich privat finanziert werden, muss man befürchten, dass sehr viele Behandlungsbedürftige diese gar nicht erhalten – mit teilweise fatalen Folgen für ihr ganzes Leben.
Quellen:
Eigene Berechnungen aus 2009. 2015 und 2020, Datenbasis für Deutschland jeweilige Heilmittelberichte der AOK, für Österreich aus parlamentarischen Anfragebeantwortungen bzw. „Leicon“-Datenbank der Krankenversicherungen, siehe
- https://www.polkm.org/newsletter (Newsletter 53-2022, S.5)
- https://www.polkm.org/newsletter (Newsletter 35-2018, S.8-10)
Empfohlene Maßnahmen:
- Anreize für Therapeut*innen schaffen, eine Kinderpraxis zu betreiben (vergleichbar der Anreize für Kassenärzt*innen, z.B. finanzielle Unterstützung bei der Ausstattung)
- Neuverhandlung der „Rahmenvereinbarungen“ mit den Verbänden der Therapeut*innen mit Neubewertung der Kassenhonorare und im ersten Schritt Verdoppelung der Kassenstellen
- Allgemein einsehbare Listen von auf Kinder spezialisierten Kassentherapeut*innen/ Ambulatorien
- Vernetzung der Versorgungseinrichtungen (Ambulatorien, spezialisierte stationäre Einrichtungen, Niedergelassene) konkret fördern, strukturieren und unterstützen
- Für komplexe Fälle sollte ein Case-Management eingerichtet werden. Also eine Person (speziell qualifizierte, fachkundige Psycholog*in, Ärzt*in, Therapeut*in), die den Therapieverlauf begleitet und steuert
- Langzeit-Therapien sollten nach objektivierbaren Maßstäben erfolgen. Kassenfinanzierte Therapien müssen – vor allem bei knappen Ressourcen – nach dem Ökonomiegebot geleistet werden: ausreichend, zweckmäßig und den Rahmen des Notwendigen nicht überschreitend
- Umsetzung des Verordnungskatalogs für Kinder und Jugendliche, https://www.polkm.org/images/
Unterlagen/VO_Katalog_18_cr. pdf - Es sollten auch nicht-medizinisch-therapeutische Unterstützungssysteme einbezogen werden (Familienhilfen, Bildungssystem, andere Helfersysteme), die entlasten und fördern können. Schulung von Eltern und anderer Betreuer = "Train-the-trainer-Systeme"
- Therapeutisches Unterstützungs-Personal direkt an Bildungseinrichtungen (vor allem Kindergärten und Volksschulen) fördern
- Es liegt in der Verantwortung der Sozialversicherungen, die Versorgung zu strukturieren und sicher zu stellen. Dort sollten auch die Fäden zusammenlaufen, Mangelsituationen evaluiert, benannt und behoben werden
- In Österreich besteht ein massiver Mangel an Kassentherapeut*innen. Es sind viel zu wenig Kassenstellen vorgesehen und von diesen sind auch nur 2/3 besetzt
- Wir bräuchten 6 x so viele Logopäd*innen und 7 x so viele Ergotherapeut*innen, die ihre Leistungen mit den Kassen verrechnen
In Deutschland stehen die in Österreich als „funktionelle Therapien“ bezeichneten Therapieformen Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie Kindern und Jugendlichen seit Jahrzehnten ausreichend und kostenfrei zur Verfügung. In Österreich war der Zugang zu diesen Therapien bis vor einigen Jahren nur in beschränktem Ausmaß kostenfrei über Entwicklungsambulatorien möglich, bei niedergelassenen Therapeut*innen mussten Eltern die Honorare zuerst selbst bezahlen und erhielten einen – meist nur geringen – Anteil refundiert.
2020 und 2021 wurden endlich zwischen der ÖGK (Österr. Gesundheitskasse) und den Berufsverbänden der Ergotherapeut*innen, Logopäd*innen und Physiotherapeut*innen sogenannte Rahmenvereinbarungen getroffen. Grundsätzlich ist der Abschluss von solchen Vereinbarungen absolut begrüßenswert, ermöglichen sie doch den Zugang zu voll kassenfinanzierten Therapien und damit ist auch der refundierte Anteil bei Inanspruchnahme von Wahltherapeut*innen gestiegen. Die vorgesehenen Planstellen reichen aber absolut nicht aus, um eine annähernd bedarfsgerechte Versorgung sicherzustellen. Darüber hinaus behandelt nur ein Teil der Therapeut*innen auch Kinder und Jugendliche.
Die angestrebten Planstellen für Logopäd*innen in Österreich machen nur ein Viertel des deutschen Niveaus aus, die für Ergotherapeut*innen ein Fünftel und für Physiotherapeut*innen gar nur gut ein Zehntel – obwohl die Häufigkeit der Krankheiten und Störungsbilder und damit der Therapiebedarf in Österreich und Deutschland weitgehend gleich sein dürfte. Warum ein derart niedriges Ziel angestrebt wird, ist völlig unverständlich. Dazu kommt, dass auch diese Stellen nicht leicht zu besetzen sind, derzeit sind es nur ca. zwei Drittel und, dass die besetzten Kassenstellen keinesfalls Kindern und Jugendlichen vorbehalten sind, sondern alle Versorgungsbereiche betreffen, der Anteil mit Schwerpunkt Pädiatrie ist nicht genau bekannt.
In Bezug auf die tatsächlich besetzten Kassenstellen bräuchten wir in Österreich ca. 6 x so viele Logopäd*innen und 7 x so viele Ergotherapeut*innen mit Kassen, um das Angebotsniveau in Deutschland zu erreichen.
Leidtragende sind sehr viele verzweifelte Familien, die vergeblich nach kassenfinanzierten Therapieplätzen suchen, die ihren Kindern laut ASVG eigentlich ausreichend zur Verfügung gestellt werden müssten. Nach wie vor müssen sie die Honorare bei Wahltherapeut*innen selbst bezahlen und erhalten nur einen Teil rückerstattet. Viele scheitern daran.
Es muss wohl der Begriff „geplante Unterversorgung“ in die österreichische Gesundheitspolitik eingeführt werden.
Quellen:
Eigene Berechnungen aus 2022, Datenbasis für Deutschland Heilmittelberichte der AOK, für Österreich Rahmenvereinbarungen und Ausschreibungen der ÖGK
- Vergleich der Zahl der TherapeutInnen.pdf (polkm.org)
- https://www.polkm.org/newsletter (Newsletter 53-2022, S.7-8)
- Kassenstellen Ausschreibungen (gesundheitskasse.at)
Empfohlene Maßnahmen:
- Anreize für Therapeut*innen schaffen, eine Kinderpraxis zu betreiben (vergleichbar der Anreize für Kassenärzt*innen, z.B. finanzielle Unterstützung bei der Ausstattung)
- Neuverhandlung der „Rahmenvereinbarungen“ mit den Verbänden der Therapeut*innen mit Neubewertung der Kassenhonorare und im ersten Schritt Verdoppelung der Kassenstellen
- In Wiener Entwicklungsambulatorien bestehen teilweise Aufnahmesperren und sehr lange oder sogar geschlossene Wartelisten. Bei einem der größten Anbieter in NÖ und Wien bestehen Wartezeiten für ärztliche Begutachtungen von bis zu 5 Monaten, für Ergotherapie, Logopädie (und Psychotherapie) jeweils bis zu 2 Jahren
Eine wichtige Versorgungsebene für Kinder und Jugendliche mit Problemen in ihrer Entwicklung sind sowohl für Diagnostik als auch Therapie sogenannte Entwicklungsambulanzen oder sozialpädiatrische Ambulatorien. Sie bieten üblicherweise ärztliche Begutachtungen, Beratungen und verschiedene Therapien an. Einer der größten Anbieter ist zum Beispiel der ursprünglich von betroffenen Eltern gegründete, private und gemeinnützige Verein VKKJ (Verantwortung und Kompetenz für besondere Kinder und Jugendliche) mit 9 Ambulatorien in Wien und NÖ, ca. 300 Mitarbeiter*innen und ca. 7000 betreuten Patient*innen pro Jahr. Der Verein wird finanziert von den verschiedenen Krankenversicherungen, dem Fonds Soziales Wien und der Sozialabteilung des Landes NÖ. Sein mögliches Angebot hängt also von der Höhe der bereitgestellten Mittel ab.
Wegen des grundsätzlich kostenfreien und umfangreichen Angebots sind Therapieplätze in Ambulatorien sehr gefragt, zumal es viel zu wenige niedergelassene Kassentherapeut*innen gibt und daher eine Therapiemöglichkeit extrem schwer, zeitnah praktisch unmöglich zu finden ist.
Von den durch Krankenkassen teilweise oder ganz finanzierten Therapien erfolgen aber nur ca. 10 Prozent in Ambulatorien, die Wartezeiten sind daher teilweise sehr lang und verhindern eine mitunter entscheidende zeitnahe Therapie. Der Verein VKKJ hat u.a. folgende Zahlen zu den Wartezeiten im März 2024 zur Verfügung gestellt:
- Ärztliche Begutachtung bis 5 Monate
- Physiotherapie bis 8 Monate
- Logopädie bis 2 Jahre
- Ergotherapie bis 2 Jahre
- Psychotherapie bis 2 Jahre
Ein Rundruf einer Sozialarbeiterin zeigte, dass die Lage in anderen Ambulatorien ähnlich ist, mitunter können therapiebedürftige Kinder und Jugendliche nicht einmal mehr auf Wartelisten gesetzt werden, z.B. im speziellen Autismus-Therapiezentrum Sonnwendviertel.
Quellen:
- Daten des VKKJ aus März 2024, zur Verfügung gestellt von der Geschäftsführung
- Ergebnisse einer telefonischen Umfrage 3/2024
- VKKJ - Verantwortung und Kompetenz für besondere Kinder und Jugendliche. - Autismus Therapiezentrum im Ambulatorium Sonnwendviertel (abgerufen 13.5.)
Empfohlene Maßnahmen:
- Ausbau des gesamten sozialpädiatrischen Versorgungssystems; wegen der hohen und vielfach belegten Dringlichkeit sollte dies in einem ersten Schritt durch unmittelbar umsetzbare Maßnahmen erfolgen
- Substanzielle Erhöhung der Mittel für die bestehenden Ambulatorien durch Krankenkassen und Sozialabteilungen der Länder
- Umsetzung erster Maßnahmen für den niedergelassenen Bereich der therapeutischen Versorgung
- In der Folge Erstellung eines Masterplans zur flächendeckenden sozialpädiatrischen Versorgung mit einem niederschwelligen, kostenfreien Zugang zu Diagnose und Therapie
- Die massiven Defizite in der Versorgung mit funktionellen Therapien werden im neuen „Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Europäischen Garantie für Kinder“, der u.a. „sicherstellen soll, dass jedes bedürftige Kind Zugang hat zu kostenloser Gesundheitsversorgung“, mit keinem Wort erwähnt
Die Europäische Garantie für Kinder ist eine Initiative der Europäischen Kommission, die darauf abzielt, den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen für bedürftige Kinder sicherzustellen. Unter diesen Dienstleistungen findet sich auch der Zugang zu Gesundheitsleistungen. Die Initiative wurde 2021 gestartet und die einzelnen Länder wurden zur Erarbeitung und Vorlage eines Aktionsplans aufgefordert.
Österreich hat im Dezember 2023 mit einiger Verspätung seinen „Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der Europäischen Garantie für Kinder“ vorgelegt und es dabei geschafft, eines der brennendsten Probleme auf diesem Gebiet völlig unter den Tisch fallen zu lassen. Der Zugang zu den enorm wichtigen entwicklungsrelevanten funktionellen Therapien (Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie) ist in Österreich vielen Kindern und Jugendlichen aus ökonomisch schwachen Familien wegen der oft notwendigen Vorfinanzierung und der nur teilweisen Rückerstattung stark erschwert bzw verunmöglicht.
Der österreichische „Aktionsplan“ erwähnt diese ungeheuerlichen Defizite in der therapeutischen Versorgung mit keinem Wort.
Der Staat vergisst seine Kinder.
Quellen: