Gesundheitssystem - nichts für arme Kinder
- 42 % der Österreicher*innen bzw. 57 % der chronisch Kranken bewerteten im Jahr 2023 das Gesundheitssystem als mittelmäßig bis schlecht, 60 % bzw. 74 % sehen dringenden Handlungsbedarf für das österreichische Gesundheitssystem und 84 % bzw. 91 % sehen eine Entwicklung zur 2-Klassenmedizin
Das Meinungsforschungsinstitut Spectra führte im Juni 2023 eine Befragung von 1010 Personen zur Zufriedenheit mit dem Gesundheitssystem durch. Die Ergebnisse der Befragung sind höchst interessant und widersprechen dem jahrzehntelang gepflegten Mythos vom „besten Gesundheitssystem der Welt“. Besonders hervorzuheben sind folgende Aspekte der Antworten:
- mit 57 % ist das Ausmaß der Unzufriedenheit bei jenen, die am meisten mit dem Gesundheitssystem zu tun haben, nämlich Menschen mit einer chronischen Erkrankung, besonders hoch
- die Unzufriedenheit hat in einem Zeitraum von 2 Jahren um 50 % zugenommen
- die Zahl derer, die dringenden Handlungsbedarf sehen, zeigt mit 60 % allgemein und 74 % der chronisch Kranken eine äußerst prekäre Situation
- nach den am häufigsten genannten Problemen Wartezeiten und Ärzt*innenmangel, wo besonders Handlungsbedarf gesehen wird, werden schon an dritter Stelle Probleme im Kassensystem, Kostenübernahmen bei Therapien und mehr Kassenleistungen genannt
- für den weit überwiegenden Teil der Befragten ist die Zwei-Klassen-Medizin Realität
Wenn es sich auch nicht um eine Befragung handelt, die gezielt Probleme der Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen erfasst, ergibt die Meinungslage doch ein bezeichnendes Gesamtbild, in dem sich auch kindermedizinische Gesichtspunkte abbilden.
Quellen:
- Spectra-Umfrage aus Juni 2023: Spotlight auf das Gesundheitssystem - Spectra Marktforschungsgesellschaft mbH
- https://www.polkm.org.ws211.hubax.at/images/Newsletter/Newsletter_58.pdf S.7
- Privat zu leistende Gesundheitsausgaben bringen immer mehr Menschen in finanzielle Nöte. Für fast 4 % der Haushalte sind diese „ruinös“, bei Pensionisten und Arbeitslosen für ca. 5,5 %
- Zahnbehandlungen machen 25 % der privaten Gesundheitsausgaben aus, es ist aber zunehmend schwer, eine Zahnbehandlung für Kinder auf Kassakosten zu erhalten
Im Rahmen einer Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) präsentierte das Institut für Höhere Studien (IHS) 2024 Zahlen zur „Belastung privater Haushalte durch Gesundheitsausgaben in Österreich“. Die erfassten Ausgaben (Selbstkosten) betreffen Arzneimittel, Medizinprodukte, ambulante Versorgung, zahnmedizinische Versorgung, Diagnoseverfahren und stationäre Versorgung. Auch wenn im internationalen Vergleich die Situation in Österreich nicht schlecht ist, so sind erstaunlich viele Haushalte durch privat zu leistende Gesundheitsausgaben schwer belastet bis in die Armut getrieben:
- Als „ruinös“ werden Gesundheitsausgaben dann bezeichnet, wenn sie mehr als 40 % des Haushaltseinkommens ausmachen, das trifft fast 4 % aller Haushalte und ca. 5,5 % bei Pensionisten und Arbeitslosen.
- „Zu Verarmung führend“ sind Ausgaben dann, wenn sie in die Nähe oder unter die Armutsgrenze oder noch weiter führen. Das betraf 2009/2010 noch 1,4 % der Haushalte, 10 Jahre später mit 2,8 % aber bereits doppelt so viele. Von diesen galten immerhin 1,4 % als durch Gesundheitsausgaben verarmt oder noch weiter verarmt.
- Wenig überraschend trifft dies zu fast 2/3 das ärmste Fünftel der Haushalte.
- In der kinderärztlichen Kassenpraxis häufen sich Rückmeldungen von Eltern, die sich schwertun, zahnärztliche Versorgung für ihre Kinder zum Kassentarif zu erhalten. Dies scheint bei Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigung noch schwieriger zu sein. Die mittlerweile zunehmend angebotene privatkinderzahnärztliche Versorgung stellt für viele Familien aufgrund der teilweise hohen Honorare eine beträchtliche Hürde dar.
Quelle:
- PowerPoint Presentation (ihs.ac.at)
- Zahnärztliche Versorgung: persönliche Mitteilung von Dr. Bernhard Jochum, FA für
Kinder- und Jugendheilkunde in Vorarlberg, Bundesfachgruppenobmann der Kinder-
und Jugendärzt:innen
Empfohlene Maßnahmen:
- das IHS empfiehlt, für alle Selbstbehalte einen einkommensabhängigen Deckel analog der Rezeptgebührenobergrenze einzuführen, der auch für Medikamente unter der Rezeptgebühr gelten sollte.
- Sicherstellung eines guten und ausreichenden zahnärztlichen Angebots für Kinder
und Jugendliche auf Kassenkosten
- Fast neun von zehn Ärzt*innen beobachten, dass arme Kinder öfter krank sind, neun von zehn Kinderärzt*innen sehen bei Kindern aus armutsgefährdeten Familien vermehrt psychosomatische Belastungen
- 83 % der Kinderärzt*innen beobachten bei armutsbetroffenen Kindern einen schlechteren Gesundheitszustand schon im Säuglings- und Kleinkindalter, besonders auch Entwicklungsverzögerungen im sprachlichen und motorischen Bereich
Im Oktober 2021 veröffentlichte die Volkshilfe die Ergebnisse einer Umfrage der Ärztekammer über Beobachtungen von Ärzt*innen zu Kinderarmut und Kindergesundheit. Einige der wichtigsten Ergebnisse (z.T. Zitate aus dem Bericht):
- 85 Prozent der befragten Ärzt*innen beobachten, dass armutsbetroffene Kinder und Jugendliche häufiger krank sind. Bei den Kinderärzt*innen sind es insgesamt 90 Prozent.
- Als häufigste Ursache für diese gesundheitliche Ungleichheit wird der strukturelle Mangel von gesundheitsfördernden Lebensumständen benannt. 82 Prozent sagen, Kinder sind aufgrund der psychosomatischen Folgen der Armutslage – etwa schlechte Wohnverhältnisse, wie Schimmel oder Kälte, aber auch Mobbing und Stress – häufiger krank. Bei den Kinderärzt*innen nennen gar 89 Prozent diese Ursache. Der permanente existentielle Stress, den armutsbetroffene Kinder und Jugendliche tagtäglich erleben, schädigt also nach Einschätzung der Befragten massiv die Gesundheit der Kinder
- Die Frage, ob in der beruflichen Praxis bei Kindern aus armutsgefährdeten Familien vermehrt psychosomatische Belastungen beobachtet werden, bejahen Kinderärzt*innen mit 90 Prozent (62 Prozent „häufig“, 28 Prozent „manchmal“)
- Gesundheitliche Nachteile sehen die Ärzt*innen schon im Säuglings- und Kleinkindalter, bei Kinderärzt*innen sind das 83 %. Genannt werden unter anderem Entwicklungsverzögerungen im sprachlichen und motorischen Bereich.
Für den (damaligen) Präsidenten der Wiener und der Österreichischen Ärztekammer, Thomas Szekeres, ist es ein erschreckendes Zeichen, dass fast ein Fünftel der österreichischen Bevölkerung armuts- und/oder ausgrenzungsgefährdet ist. Darunter fallen fast 350.000 Kinder und Jugendliche.
„Österreich ist eines der reichsten Länder der Welt im Herzen Europas. Armut ist in Österreich aber nach wie vor ein Thema, und es wird weitgehend tabuisiert und beschäftigt die Öffentlichkeit bestenfalls in der Adventzeit.“ Dabei werde aber vergessen: „Wer bei Kindern spart, spart an der Zukunft. Denn Kinder, die in Armut leben, erkranken öfter, zeigen vermehrt Entwicklungsstörungen, erkranken häufiger psychisch, sind stärker suizidgefährdet und sterben um fünf bis acht Jahre früher als die Durchschnittsbevölkerung. Sie sind die chronisch Kranken von morgen!“
Erich Fenninger, Direktor der Volkshilfe Österreich:
„Ein Leben in Armut schädigt die physische und psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Das ist wissenschaftlich vielfach bestätigt und keine Neuigkeit. In unserer gemeinsamen Umfrage wollten wir daher genauer beleuchten, wie vielfältig diese Schädigungen sein können und wie früh sie beginnen können. Die Ergebnisse sind alarmierend und zeigen hohen Handlungsbedarf.“
Quelle:
Empfohlene Maßnahmen:
Abschließend wurde gefragt, welche Maßnahmen die Mediziner*innen für besonders wichtig halten, um den Gesundheitszustand armutsbetroffener Kinder abzusichern. Zu den Top vier gehörten für die Befragten
- ausreichend kostenlose Therapieplätze für Kinder bei medizinischer Indikation (66 %)
- kostenfreie Maßnahmen zur Mund-, und Zahngesundheit für alle unter 18 Jahren (61 %)
- die rasche Erweiterung der Krankenkassenplätze für Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen (54 %) sowie
- die Reform beziehungsweise der Ausbau der Kassenverträge im Bereich der Kinder- und Jugendheilkunde, aber auch den Ausbau der Gesundheitsbetreuung an Schulen nennt eine Mehrheit (50 %) als besonders wichtige Maßnahme
Eine hervorragende Zusammenstellung weiterer wichtiger Maßnahmen finden sich in einem „Policy Paper“ der Volkshilfe Österreich (ab Seite 30).
- Ein niedriges Familieneinkommen hat erhebliche Auswirkungen auf den Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen. Dies betrifft sowohl den allgemeinen Gesundheitszustand als auch die psychische Gesundheit
- Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem Einkommen weisen mit 8,0 % weitaus häufiger eine nur mittelmäßige oder schlechtere subjektive Gesundheit auf als Gleichaltrige aus Familien mit mittlerem oder hohem Einkommen (3,6 % bzw. 1,6 %)
Die Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) ist eine vom Robert Koch-Institut (RKI) seit 2003 durchgeführte Erhebung zum Gesundheitszustand der in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen im Alter von 0 bis 17 Jahren sowie zu deren gesundheitlicher Entwicklung bis ins Erwachsenenalter. Die Basiserhebung wurde 2003 bis 2006 durchgeführt. Insgesamt wurden in 167 Studienorten 17.641 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren gesundheitlich untersucht und deren Eltern (sowie Jugendliche ab 14 Jahren) befragt. 2009 bis 2012 erfolgte eine weitere Befragung als KIGGS Welle 1 und von 2014 bis 2017 setzte das RKI die Studie unter dem Titel KiGGS Welle 2 als Befragung und auch mit körperlichen Untersuchungen und Tests fort. Diese Langzeitstudie gilt als die wichtigste zu Kinder- und Jugendgesundheit im deutschsprachigen Raum.
Ergebnisse der KIGGS Welle 2 hinsichtlich „Auswirkungen von Armut auf den Gesundheitszustand und das Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen“: Kinder und Jugendliche der Armutsrisikogruppe sind deutlich häufiger in ihrer Gesundheit beeinträchtigt als Gleichaltrige aus der mittleren und vor allem aus der hohen Einkommensgruppe, ihr Gesundheitsverhalten ist ungünstiger.
- Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem Einkommen weisen mit 8,0% weitaus häufiger eine nur mittelmäßige oder schlechtere subjektive Gesundheit auf als Gleichaltrige aus Familien mit mittlerem oder hohem Einkommen (3,6% bzw. 1,6%)
- Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem Einkommen sind zu 6,0 % dauerhaft gesundheitlich eingeschränkt, während es von den Gleichaltrigen aus der mittleren und hohen Einkommensgruppe 4,1 % bzw. 2,1 % sind
- Kinder und Jugendliche aus Familien mit niedrigem Einkommen sind zu 23,1 % psychisch auffällig im Vergleich zu 16,2 % der Gleichaltrigen aus der mittleren und 9,2 % der Gleichaltrigen aus der hohen Einkommensgruppe
- Von den Kindern und Jugendlichen aus der niedrigen Einkommensgruppe sind 23,9 % übergewichtig, während es von den Gleichaltrigen aus der mittleren und hohen Einkommensgruppe 13,6 % bzw. 8,4 % sind.
Zusammenfassung: „Die Ergebnisse bestätigen, dass ein niedriges Familieneinkommen erhebliche Auswirkungen auf den Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen hat. Zum Teil gilt das auch für ihr Gesundheitsverhalten, wobei die hier beobachteten Unterschiede zwischen den Einkommensgruppen überwiegend der Bildung und beruflichen Stellung der Eltern zugeschrieben werden können. Es zeigt sich einmal mehr, dass Kinder und Jugendliche, die in Armut aufwachsen, eine zentrale Zielgruppe der Prävention und Gesundheitsförderung sein sollten.“
Quelle:
- KIGGS-Studie Welle 2
Empfohlene Maßnahmen:
Geeignete Maßnahmen zur Beseitigung oder zumindest Verkleinerung der armutsbedingten Unterschiede im Gesundheitszustand können betreffen:
- Sozioökonomische Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut
- Abbau und Beseitigung von finanziellen oder anderen Zugangsbarrieren im Gesundheitssystem
- Förderung des Gesundheitsbewusstseins und
- Präventive Maßnahmen
- Eine umfassende und sehr gute Zusammenstellung wichtiger Maßnahmen finden sich in einem „Policy Paper“ der Volkshilfe Österreich, siehe ab Seite 30 in
Brosch_PolicyPaper_Kindergesundheit_04-2021_web_Doppelseiten.pdf (volkshilfe.at)