Allein mit psychischen Problemen
- In Österreich ist nur 1/3 der notwendigen Kassenstellen für Kinder- und Jugendpsychiatrie besetzt
- Es fehlen hunderte Betten in der stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung
Die psychische Gesundheit im Kindes- und Jugendalter ist entscheidend für ein gelingendes weiteres Leben. Die möglichen negativen Einflüsse in dieser vulnerablen Zeit der Persönlichkeitsentwicklung sind vielfältig, sie reichen von vorgeburtlichen Faktoren über Schädigungen bei und um die Geburt, frühkindliche Traumata, problematische familiäre Verhältnisse und Erlebnisse, bis zu sozialen Prägungen in der Schule und den Herausforderungen der Pubertät. Besonders schwierig sind diese Phasen für Kinder und Jugendliche aus prekären sozialen und ökonomischen Verhältnissen.
Der Bedarf für entsprechende Unterstützungsangebote zeigt sich schon bei regelmäßigen Befragungen von Schüler*innen (Österr. HBSC-Studie, 2023):
- Die Lebenszufriedenheit der Schüler*innen sinkt mit zunehmendem Alter. 31 % der Mädchen und 19 % der Burschen sind mit ihrem Leben gegenwärtig „nicht sehr zufrieden“.
- 22 % der Mädchen und 10 % der Burschen leiden gemäß WHO-5-Auswertungsmanual möglicherweise an einer depressiven Verstimmung oder Depression.
- An psychischen oder physischen Beschwerden leiden wesentlich mehr Mädchen als Burschen. Gereiztheit und schlechte Laune, Schwierigkeiten beim Einschlafen, Nervosität, Zukunftssorgen und Niedergeschlagenheit werden am öftesten genannt.
- Zwischen 3 und 12 Prozent der Mädchen, je nach Schulstufe, und zwischen 4 und 13 Prozent der Burschen wurden in den letzten Monaten in der Schule mehrmals gemobbt.
- 10 Prozent der Mädchen und 7 Prozent der Burschen zeigen eine problematische Nutzung von sozialen Medien.
- Die Beschwerdelast ist bei den Schüler*innen in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen, bei Mädchen als auch Burschen und in allen Altersgruppen – Tendenz vermutlich weiter steigend.
Eine „sicher akute Behandlungsbedürftigkeit“ bestand schon in der Vor-Corona-Zeit bei 14 % der 10-18 Jährigen, als nicht akut, aber behandlungsbedürftig wurden weitere 8 % dieser Altersgruppe angesehen. Die häufigsten 5 Diagnosegruppen waren dabei Angststörungen, ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen), Verhaltensstörungen, Anpassungsstörungen und Depressionen. Die Pandemie hat hier nochmals einen verstärkten Druck auf die schon vorher zahlenmäßig weitaus unzureichenden Versorgungseinrichtungen ergeben.
- nur ca. 1/3 der notwendigen Kassenstellen für Kinder- und Jugendpsychiatrie sind besetzt. 2022 gab es bei einem nach dem Bedarf geforderten Soll von 112 Kassenstellen nur 41 vorgesehene und 38 tatsächlich besetzte Stellen.
- Es fehlen hunderte Betten in der stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung. Bei einem Bedarf von 0,07 bis 0,13 kinderpsychiatrischen Betten pro 1000 Einwohner*innen gab es 2022 in Österreich 0,05 Betten pro 1000 Einwohner*innen, das waren 437 „systemisierte“ Betten der Kinder-.und Jugendpsychiatrie und der Psychosomatik und 138 tagesklinische Betten. Fehlbestand somit mindestens 230 bis über 1000 Betten.
Quellen:
- HBSC-Studie, Studie zur Jugendgesundheit zeigt hohe psychische Belastungen | Gesundheitsportal
- Koubek, D., Krönke, H. & Karwautz, A. Die aktuelle Situation der kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung in Österreich im niedergelassenen Bereich. Neuropsychiatr 36, 160–164 (2022).
- Fliedl, R., Ecker, B. & Karwautz, A. Kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung 2019 in Österreich – Stufen der Versorgung, Ist-Stand und Ausblick. Neuropsychiatr 34, 179–188 (2020).
- Sevecke, K., Wenter, A. & Böge, I. Stationäre Versorgung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie – wer hat Platz?. Neuropsychiatr 36, 179–187 (2022).
Empfohlene Maßnahmen:
Laut Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, siehe
- Ausbildungsinitiative zur Fachärzt*innengewinnung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutische Medizin: flächendeckende finanzielle Unterstützung der Zusatzausbildung im Bereich der Psychotherapeutischen Medizin und Unterstützung der Länder bei der Schaffung neuer Ausbildungskapazitäten
- Ausbau kinder- und jugendpsychiatrischer stationärer Kapazitäten
- Ausbau der Versorgungskapazitäten im Rahmen von Ambulatorien und im Rahmen von kassenfinanzierten kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungsplätzen im niedergelassenen Bereich
- Umsetzung von finanzierten Ausbildungsstellen der niedergelassenen Lehrpraxis im Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutischer Medizin
- Bundesweite Umsetzung neuer Behandlungsmodelle wie des Hometreatments
- Schaffung gemeinsamer Strukturen an der Schnittstelle zwischen den Ressorts Gesundheit, Bildung, Justiz, Familien und Wirtschaft
- Möglichkeit der wechselseitigen Anerkennung von Ausbildungszeiten in den Fächern Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutischer Medizin und Psychiatrie und Psychotherapeutischer Medizin um Doppelfachärzt*innen schneller eine Berufsausübung ermöglichen zu können
- Weniger als die Hälfte jener Kinder und Jugendlichen, die über eine psychische Erkrankung in ihrer Lebenszeit berichten, haben irgendeine Form der Behandlung erhalten
Die österreichische Versorgungslandschaft für die Betreuung psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher war bereits vor der Pandemie unzureichend ausgestattet. Es besteht ein durchgängiger Mangel an kassenfinanzierter Psychotherapie für Kinder- und Jugendliche, der Ausbau niederschwelliger Angebote an Schulen ist im Vergleich zu vielen anderen europäischen Ländern nie erfolgt.
Es existiert kein flächendeckendes Konzept zur Prävention psychischer Erkrankungen. Die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung hat noch nie die im Strukturplan Gesundheit Österreich geforderten Versorgungsziele, weder im ambulanten, noch im stationären Bereich erreicht. Das führt dazu, dass weniger als die Hälfte (47,5 %) jener Kinder und Jugendlicher, die über eine psychische Erkrankung in ihrer Lebenszeit berichten, irgendeine Form der Behandlung erhalten haben.
Durch die in der Pandemie gestiegenen Zahlen psychischer Erkrankungen ist das System am Rande seiner Kapazitäten angekommen, bzw. weit darüber hinaus belastet und wird nur durch die persönliche Bereitschaft der in diesem System Arbeitenden über die Belastungsgrenzen hinaus zu arbeiten, aufrechterhalten.
(Zitate aus der angegebenen Quelle)
Quelle:
Empfohlene Maßnahmen:
Die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (ÖGKJP) fordert (gekürzt, Details siehe obige Quelle)
- Zugang zu kassenfinanzierter Psychotherapie und kinder- und jugendpsychiatrischen Angeboten
- Stellenausbau im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Kinder- und Jugendhilfe sowie im Bereich der Kinder- und Jugendlichen Psychotherapie
- Umgestaltung der Angebote mit vermehrter Verankerung niedrigschwelliger therapeutischer Angebote im Alltag von Kindern und Jugendlichen
- Schaffung und Ausbau von digitalisierten Angeboten
- Investition in Frühintervention
- Systemübergreifende Kooperation
- Flächendeckende Einführung evidenzbasierter Präventionsprogramme im schulischen sowie im außerschulischen Rahmen
- Förderung der „Mental Health Literacy“ bei Kindern im Bereich der Elementarpädagogik aber auch im schulischen- und im Ausbildungsbereich
- Regelmäßiges Monitoring der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Österreich
- In Deutschland erhalten mehr als doppelt so viele Kinder und Jugendliche als in Österreich eine Psychotherapie auf Kassakosten
Wenn ca. 15% der Kinder und Jugendlichen wegen psychischer Probleme als behandlungsbedürftig gelten, dann sind alle Behandlungsebenen gefordert. Neben stationären und ambulanten kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen und Praxen ist die Behandlung durch auf Kinder und Jugendliche spezialisierte Psychotherapeut:innen ein wesentliches Standbein der Behandlungsoptionen, abhängig von Art und Schweregrad der Probleme, Störungen oder einer Krankheit. Besondere Bedeutung kommt ihnen allein schon deshalb zu, weil ihre Zahl wesentlich höher ist als die der Kinder- und Jugendpsychiater:innen.
In mehreren Quellen wird berichtet, dass mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen mit Therapiebedarf nichts dergleichen erhält. Das kann viele Gründe haben, aber ein ganz wesentlicher Faktor dürfte die Leistbarkeit sein: während in Deutschland Psychotherapie auf Krankenschein bei niedergelassenen Therapeut:innen und ohne Selbstkosten die Regel ist, besteht in Österreich noch immer ein kompliziertes System von mitunter ganz kassenfinanzierten Psychotherapien, meist aber selbst zu zahlenden Therapien mit teilweiser Refundierung. Das übersteigt bei vielen Familien die finanziellen Möglichkeiten. Die in den letzten pandemiebedingten Krisenjahren eingeführte, aber kontingentierte Aktion „Gesund aus der Krise“, die kassenfinanzierte Therapieplätze bis zu 15 Einheiten anbietet, reicht für den Gesamtbedarf bei weitem nicht aus.
Daten zur Häufigkeit von Psychotherapien bei Kindern und Jugendlichen sind schwer zu erlangen, auch in Deutschland sind genaue Angaben nur alle paar Jahre zu finden: ein Report aus 2021 gibt für 2019 an, dass 823.000 (4,13%) Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bis 24 Jahren eine Psychotherapie auf Kassakosten erhielten.
In Österreich kann man aus Zahlen des sogenannten „Leicon“-Systems errechnen, dass 2020 39.008 (1,7%) 0-20-Jährige eine Therapie mit vollständiger oder oft nur teilweiser Finanzierung der Krankenkasse erhielten. Selbst bei Berücksichtigung der nicht gleichen Altersgruppen, ist festzustellen, dass in Deutschland mehr als doppelt so viele Kinder und Jugendliche eine Psychotherapie auf Kassakosten erhalten als in Österreich.
Quellen:
- Sevecke, K., Wenter, A., Haid-Stecher, N. et al. Die psychische Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen und deren Behandlungsmöglichkeiten im Drei-Länder-Vergleich (Ö, D, CH) unter Berücksichtigung der Veränderungen durch die COVID-19-Pandemie. Neuropsychiatr 36, 192–201 (2022).
- Zahlen, Daten & Fakten | ÖBVP Österreichischer Bundesverband für Psychotherapie
- https://www.psyonline.at/contents/14722/statistik-und-daten-zur-psychotherapie
- Gesund aus der Krise - Gesund aus der Krise
- Barmer- Arztreport 2021
- eigene Berechnungen aus Leicon-Versorgungszahlen für Österreich
Empfohlene Maßnahmen:
- Sicherstellung eines ausreichenden und kostenfreien Zugangs zu Psychotherapie für Kinder und Jugendliche